Lost to regain 10 – Die letzte Etappe
28. Juli 2016
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Montag 25. Juli, Laage, 30 Kilometer vor Rostock, 20:40 Uhr. Ich sitze auf dem Bett in Zimmer Nummer 3 im ersten Stock der Pension Stern. Die Sonne scheint mir ins Gesicht. Sie steht noch hoch am Himmel, sicherlich noch eine Stunde lang. Vorher ging ein leichtes Gewitter nieder und die Menschen sind in ihren Häusern, leise Alltagsgeräusche sind zu hören. Fernseher und ein letztes Kramen in den Küchen. Feierabend.
Vor wenigen Tagen, als das Attentat in München verübt wurde, sagten sie in den Nachrichten, dass um 21 Uhr die Hubschrauber mit Suchscheinwerfern über München kreisten. Da war es also schon dunkel. Ich bin im Norden. Knapp vor der Ostseeküste.
In den letzten Tagen überschritt ich die Grenze zwischen Mecklenburger Seenplatte und Mecklenburger Schweiz. Ein Herr sagte zu mir: „Die Meck-Schweiz wird Sie an zu Hause erinnern.“ In sanften Wellen folgen Korn- und Maisfelder aufeinander, dazwischen Reihen von Bäumen und Büschen.
Ein Journalist erzählte mir, dass das Wasser in der Region durch die Landwirtschaft vergiftet sei. Für Trinkwasserbrunnen muss man inzwischen an die 80 Meter in die Tiefe bohren. Ich ging durch sehr trockenes Land.
Bis einen Tag vor Laage, bis zum Weiler Gielow-Peenhäuser, hatte ich meist schöne Wege. Buchenwälder, Felder, dazwischen Seen oder Teiche. Die Etappe nach Laage führte zuerst über kleine Landstraßen, dann gab es für mich nur mehr die Hauptstraße als mögliche Verbindung. Die Lastwägen und die Autos brausten mit 80 bis 100 km/h an mir vorbei. Der begehbare Streifen neben der Straße war meist so schmal, dass die Autos kaum mehr als einem Meter Abstand zu mir hielten. Das zehrte an meinen Nerven. Ich hätte deshalb gerne für dieses Wegstück einen Bus genommen, doch es war der erste Ferientag und es gab keine Verbindungen.
Dann hielt eine Dame neben mir an und las mich von der Straße auf. Ich war bereits schier aufgelöst von der Hitze und hatte nur mehr einen letzten Schluck Wasser in der Flasche. Denn nirgendwo, schon seit zwei Tagen, gab es ein Geschäft oder einen Gasthof am Wegesrand. Die letzten Kilometer fuhr ich also mit ihr mit. Mit Gisela. Wir hatten sogleich einen Draht zueinander, Gisela lebt in Laage und ist ein paar Jahre älter als ich. Sie lud mich in ihr Haus auf einen Kaffee ein. Von der Straße aus wirkt ihr Haus klein, doch innen und zum Hof hin ist es gut ausgebaut und ein großer Garten zieht sich weit nach hinten. Ein Idyll. Wir hatten gleich viel zu besprechen, es war eine jener seltenen Begegnungen, bei denen man eine tiefe Vertrautheit empfindet, obwohl man sich eben erst kennen lernte.
In der Pension Stern, sie ist an eine Bäckerei angeschlossen, wurde ich herzlich begrüßt und bezog ein frisch renoviertes Zimmer mit noblem Bad. Die Kleinstadt Laage ist wegen ihrer Nachbarschaft zum Flughafen Rostock bekannt. Doch sie ist keine gesichtslose Vorstadt. Backsteinbauten, Fachwerkhäuser, ein beeindruckendes Rathaus und ein ebensolche Kirche verweisen stolz auf die 800 jährige Geschichte dieser Kleinstadt. Gasthaus fand ich keines. Drei Bäckereien, Supermärkte, auch einige andere Geschäfte, aber kein Wirtshaus. Ich musste also zum Supermarkt und kaufte mir eine italienische Jause. Kalte Küche in Laage.
Die letzte Etappe plante ich noch um, damit ich möglichst nicht an einer Hauptstraße gehen muss. Die Linie durch die Dörfer führte erstaunlich lange durch Felder und Wald, auf einer jener alten Straßen, die noch teils Kopfstein, teils Erdwege sind.
Ich kam an einem Haus vorbei und wurde wieder auf eine Erfrischung eingeladen. Ein Herr und seine ihn eben besuchende Tochter servierten mir hausgemachten Sauerkirschsaft. Der kleine Tom war am Sonntag getauft worden, dann gab es noch eine etwas ältere Lara. Zwischen Obstbäumen erzählte mir der Herr ein wenig aus seinem Leben. Ich bin auch ein Flüchtling, sagte er zu mir. Denn seine Familie war nach dem Krieg aus Westpreussen hierher geflohen. Und wie viele andere, mit denen ich in den letzten Wochen sprach, hatte auch er Jahrzehnte lang für seine Arbeit weite Pendelwege kreuz und quer durch Deutschland auf sich genommen. Die Begegnung mit ihm und seiner Tochter war von großer Herzlichkeit. Ich wurde sogar umarmt zum Schluss, und ich wäre sehr gerne noch länger geblieben – in diesem Garten, zwischen Bäumen und Beeten und neben spielenden Kindern. An diesem Ort, an dem ich zum Schluss dieser Wanderung noch einmal – und wohl, damit ich es auch sicher verstehe – vorgeführt bekam, dass der Mensch, sofern er in relativer Sicherheit leben kann, ein gutes Wesen ist.
Mittagsrast bei der Kirche in Kessin. Fast alle Kirchen hier in der Gegend sind aus Backstein. In den letzten Tagen war das Backsteinmauerwerk zusätzlich durchmischt mit Bachsteinen und teils sehr großen Findlingen. Diese Mauerwerke strahlen eine unbeschwerte Leichtigkeit aus.
Die letzten Kilometer bis Rostock verfolgte ich einen Radweg.
Die Stadt beginnt allmählich, ist hier eine langsame Verdichtung von Dörfern. Und ich hatte nicht den Eindruck, dass diese Stadt hinauswächst, sondern hier scheint es umgekehrt zu sein, die Dörfer überwuchern langsam die Stadt. Rostock wirkt also nicht großstädtisch. Zwar entstehen gerade viele schicke neue Eigentumswohnungs-Blockbauten und die Innenstadt ist vor allem eine Einkaufsmeile, aber doch bleibt das Gefühl der Kleinstadt bestehen.
Ich wanderte bis zur Petrikirche, die ich als Endpunkt für die Stadt Rostock bestimmt hatte. Dann ging ich ins Hotel gleich beim Bahnhof. Es ist eines jener gesichtslosen Investorenhotels, die man nur bucht, wenn die Stadthotels alle belegt sind. Ein großes Feuerwehrtreffen findet kommendes Wochenende in Rostock statt, es war schon Glück, überhaupt noch ein Einzelzimmer zu bekommen.
Ich fuhr mit der Bahn bis zur Station Warnemünde Werft, ging entlang der im Hafen liegenden Kreuzfahrtschiffe zur Fähre und setzte über zur Großen Düne. Es regnete leicht, es war noch früh am Morgen und der Strand war menschenleer. Ich wanderte etwa zwei Stunden lang die Küste entlang. Sank ein im Sand. Das Meer war ruhig, so wie ich es in meinem letzten Buch beschrieb:
Das Meer ist hier ruhig wie ein See – strukturiert nur durch sanfte, weiche und großflächige Zusammenschiebungen. Wellen wäre zu viel gesagt.
Bei Siegfried Lenz fand ich eine ähnliche Formulierung: Bevor die Stürme einsetzen, ist die Ostsee hier draußen vor der Bucht ruhig; die Dünung geht weich und gleitend, die Farbe des Wassers wird schwarzblau.
Der Regen ließ nach, doch der Himmel blieb verschleiert, eine Ahnung von Sonne wechselte sich mit fernem Gewittergrollen ab. Es war kühl. Zum ersten Mal benutzte ich an diesem Morgen meine neue Regenjacke. 600 Kilometer weit hatte ich sie hierher getragen. Ich machte Filmaufnahmen. Ging knapp am Wasser. Plötzlich, und ohne jede Vorwarnung, hob sich die See. Und breite und kurz aufeinander folgende Wellen brachen sich am Strand. Ich konnte gerade noch ausweichen. Das Schauspiel dauerte etwa zwei Minuten, dann war die See wieder still. Die Farben des Wassers und die Himmelsstimmungen wechselten laufend. Denn die Wetterströmungen kämpften.
Ich habe das Wasser und die Himmel immer richtig gemalt, dachte ich bei mir. Und erinnerte mich an alle Bilder, die ich seit meiner Deutschlandreise 2008 gemalt hatte. Die Farben des Nordens entsprechen mir. Ich passe hierher.
Nach und nach rückte die Heide immer näher ans Ufer heran. Es gibt nur kleine Pfade, die man begehen darf, denn diese Vegetation verträgt nur wenige Menschen. Aber den Touristen ist der Weg bis hierher ohnehin viel zu weit.
Ich ging bis auf Höhe des Heiligen Sees. Er liegt ein Stückchen landeinwärts, von Moor umgeben, eingebettet in die Heide. Unerreichbar.
Hier endet meine Geschichte.
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8 Kommentare
Gratulation Maria ………wunderschön!!!!!!!!!
Ich Danke Dir! Das freut mich ganz sehr!
Until we meet again ….
Lb. Maria,
ich bin mit dir lesend mitgewandert und hab mich jeweils auf den nächsten deiner Etappen-Texte gefreut. It’s over now und ich grüß dich bis zu deiner Rückkehr.
Christine
Liebe Christine
Danke fürs Dabeisein. Ach, es gäbe immer noch so viel zu tun hier… Aber es wird auch schön sein, wieder in den eigenen vier Wänden zu verweilen. Habe so viel Material gesammelt, keine Angst vorm nächsten Winter.
Bis bald
Maria
Liebe Maria
das mit den Wellen, die plötzlich aus dem Nichts kommen, kenne ich gut, ich habe mal deswegen bis zum Bauchnabel im Wasser gestanden….
So, nun am Ende deiner Wanderung, hast du eine der schönsten Landschaften kennenlernen dürfen, die wir so haben in goog old Germany, ich liebe selbst die Weite und Lieblichkeit. Glückwunsch zur erfolgreichen letzten Etappe und zu 600 km ( da war Nepal ja eine gute Übung). Viele liebe Grüße von Eva aus Berlin
Liebe Eva
Danke für die Wünsche!
Diese Flutwellen haben mich sehr beschäftigt. Ja wo kommen die nur so unvermittelt her? Ich habe es nicht verstanden.
Diese Küstenlandschaft ist wirklich umwerfend schön. Sitze im Bus nach München und schon habe ich wieder Sehnsucht nach dieser Weite und dem Licht. Aber so wie es aussieht, nehme ich gutes Wetter mit. Rauf also auf die Berge….
Schöne Grüße Dir und Peter nach Berlin
Maria
Liebe Maria,
danke für Deine Texte und Bilder. Es war schön für mich so an Deiner langen Wanderung teilhaben zu können. Hab immer schon auf Deinen nächsten Eintrag gewartet. Ein Teil von mir hat immer Sehnsucht nach dieser Weltgegend (meine Mutter ist in Ost und Norddeutschland aufgewachsen…) Freu mich aber auch schon dich wiederzusehen.
Bis bald
Bernd
Lieber Bernd
Das freut mich, wenn Du ein wenig mit unterwegs warst! Ja, diese Landschaften kann ich empfehlen. Wir sehen uns…
Bin knapp vor Innsbruck. Freu mich aufs eigene Bett.
L.G.Maria