Lost to regain – Der Klang der Sterne 04 – Ankunft in Irkutsk

Marie Nachfolgerin 08, 12.12.2018

Zeichnen im öffentlichen Raum ist heutzutage eine Mutprobe. Seit etwa zwei Jahren ist das so. Wann immer ich es tue, werde ich entsetzt angestarrt und von Kellnerinnen oder Kellnern umgehend schlecht behandelt.
Eine Wahnsinnige!
Oder doch zumindest ein hoffnungslos rückständiger Mensch.

Dagegen kann man selbstverständlich ohne weiteres am Mobiltelefon herumtippen. Man kann sogar lautstark telefonieren, man kann einen Laptop benutzen, auch eine Zeitung lesen ist erlaubt. Ein Buch ist schon leicht verdächtig, es sei denn, es hat ein offensichtliches Urlaubslektüre-Cover.
Ein Zeichenblock dagegen ist ein absolutes No-Go.
Mit manchen Dingen muss man einfach leben lernen.

 

Die Anreise nach Irkutsk war unkompliziert. Ich checkte bereits in Wien Mitte ein und hatte deshalb in Schwechat keinen Stress.

Wetter beim Start in Wien.

In Moskau brauchte ich eine Weile, bis ich das richtige Gate finden konnte, denn ich war ja bereits im Inlandsbereich des Flughafens. Dort gab es keinen Infostand und die Beschriftung war fragmentarisch. Doch zuletzt saß ich im Flieger nach Irkutsk. Ich vermute, ich war die einzige ausländische Touristin. Nach Irkutsk fährt man ja normalerweise in den Sommermonaten mit der Transibirischen Eisenbahn.

Als ich den Flughafen verließ, hatte es -15° C. Ich wollte kein Taxi nehmen. Ich nehme möglichst nie Taxis wenn ich einen neuen Ort bereise. Das Suchen der richtigen Bushaltestelle, das Erkunden der richtigen Linie, das Kaufen des Tickets – das ist Ankommen.
Ich mag es, die Dynamik und die Abläufe eines Land sofort zu spüren – und so auch gleich mit den ersten Menschen in Kontakt zu treten.

Die Bewohner von Irkutsk sind hilfsbereit. Ein Autobusfahrer, der eben Pause hatte, half mir den richtigen Bus zu finden. Der Weg vom Flughafen ins Zentrum beträgt nur ca. 5 Kilometer. Auf der Karl Marx Straße Ecke Gastronom #1 stieg ich aus. Leiser Schnee fiel, es herrschte dichter Durchzugsverkehr, eine lebendige Einkaufsstraße. An den Straßenlaternen sind Lautsprecher montiert – Musik übertönt die knirschenden Schritte im Schnee, sie übertönt sogar teils den Straßenlärm. Bloß den beißenden Dieselgeruch kann auch die Stimmungsmusik nicht vergessen machen.

Irkutsk Karl Marx Street from Maria Peters on Vimeo.

Das Hotel Viktoria ist nur wenige Schritte von der Hauptstraße entfernt, doch hier ist es ruhig. Ich wohne im so bezeichneten 6. Stock (in Russland gibt es kein Erdgeschoss).

Hotel Viktoria vom dahinterliegenden Parkplatz aus fotografiert. Von meinem Zimmer aus sehe ich auf diese Seite.

Ich wollte eigentlich sofort einen ersten Bericht verfassen. Doch ich hatte den Jetlag schwer unterschätzt. Ich bin hier zeitlich 7 Stunden weiter im Osten, mir fehlte also fast eine ganze Nacht. Nach kurzer Rast drehte ich trotz großer Müdigkeit eine erste Runde durch die City. Ich besichtigte einen Supermarkt, sah den hastend einkaufenden Einheimischen zu und bemerkte rasch: die Finger kühlen schnell aus beim Fotografieren, man muss tatsächlich vorsichtig sein.

Selfie vor dem ersten Ausflug in die Stadt, gleich nach meiner Ankunft.

Später gönnte ich mir ein sehr gutes Abendessen im Hotel. Champignonsuppe und Lachs als Hauptgang.
Das Kochen, so scheint es bisher, das beherrschen die Russen. Schon das Mittagessen in der Aeroflot war ein Gedicht. Bulgur mit grünen Bohnen und Hühnerfilet in wunderbarer Soße – würzig-süß mit leichtem Zimtgeschmack.

Am heutigen Mittwochmorgen schlief ich bis kurz nach 10 Uhr. Ich ärgerte mich zuerst darüber, weil ich doch so viel hier erkunden möchte. Doch später musste ich mir eingestehen, man friert weniger, wenn man gut ausgeschlafen ist. Draußen schönster Sonnenschein. Die Tagestemperatur war heute, für diese Jahreszeit sehr milde, – 11 ° C.

Am Ufer der Angara erwartete mich eine gelassene Morgenstimmung. Hier gibt es Spazierwege und Freizeitinseln. Fischer, Spaziergänger, Frauen mit Kinderwägen. Nur am Anfang des Parks spielte wieder Musik.

Eine der vorüberkommenden Mütter hatte am Kinderwagen ein Radio montiert. Vielleicht ist das klug von ihr, dachte ich, vielleicht erträgt dieses Kind einst die allgegenwärtige lautstarke Zwangsbeschallung (in den Straßen, auf Plätzen, in Restaurants und Kaufhäusern …) besser als ich.
Ich spazierte gemächlich über eine der Freizeitinseln und konnte mich kaum sattsehen an der glitzernden Landschaft.

Am Ufer der Agara

Fischer auf dem Eis. Unter dem eigenartigen Plastikzelt sitzt ein wärmebedürftiger Angler.

Winter.
So, wie sie auch bei uns einmal waren.
Winter der Kindheit.

Der Schnee knirscht unter den Sohlen und unter den Reifen der Autos. Die Wege sind nicht geräumt, kein Salz, kein Split. Auch auf den Fahrbahnen nicht. Ökologisch klug – und zudem beobachte ich: alle Menschen hier sind geländegängig, selbst sehr alte Menschen mit Stock, Damen mit Absätzen, kleine Kinder. Die Autofahrer manövrieren souverän durch die Straßen, sachte, rücksichtsvoll. Als Fußgänger hat man immer Vorrang, man kann jederzeit, auch im dichtesten Verkehr, einfach die Straße überqueren.

Lenin Denkmal

Krestovozdvizhenskaja Curch

Zutrauliche Katze ebendort

Vom Ufer der Angara bummelte ich in Richtung Zentrum und wollte zuerst das Dekabristen-Museum besichtigen. Doch sie drehten dort gerade einen Film und die Dame am Empfang gab mir zu verstehen, dass ich morgen wieder kommen soll.

Volkonski Manor House

Die Informationen auf Homepages und die realen Gegebenheiten unterscheiden sich doch immer wieder, ich beschloss deshalb, zuerst einmal in die Tourist-Information zu pilgern. Die Dame dort gab mir Informationsmaterial und war sehr zugänglich. Ich besitze nun einen Stadtplan in gedruckter Form, ein beruhigendes Gefühl.

Ich überlegte dann, ob ich noch zum Haus der Maria Wolkonskaja gehen sollte, doch es war bereits nach 16 Uhr Ortszeit, die Sonne war schon knapp beim Untergehen, die Temperatur fiel merklich und die Kälte kroch erbarmungslos in die Knochen.

Also ging ich einige Seitenstraßen benutzend zurück ins Quartier. Auf einem Platz sah ich ein Plakat mit dem Wappen von Irkutsk.

Die Geschichte dieses Wappens ist skurril: 1690 vom Zar verliehen, zeigte es ursprünglich einen sibirischen Tiger mit Zobel im Maul. Diese Tiere sollten Reichtum und Macht symbolisieren.
1878 musste das Wappen in Moskau für eine Modernisierung vorgelegt werden. Wegen eines Übersetzungsfehlers entstand nun aus „babr“ = Tiger ein „bobr“ = Biber. Die Streifen des Wappentiers waren verschwunden, ein Biberschwanz hinzugefügt worden. Die Irkutsker nehmen es inzwischen mit Humor. Ihr Wappen steht heute, nach vielen missglückten Berichtigungsansuchen, auch für die komplizierte Bürokratie des riesigen russischen Reiches.

Doch über diese ungewöhnliche Geschichte des Wappens von Irkutsk hinaus:

Entwurf – Detail des Bildes „Der Fall Marie 23“, 2013

Der Fall Marie 23, 2013

Der Fall Marie 23, 2013

Das Malen dieses Bildes war der Auslöser für mein schrittweises mich Erinnern an die Geschichte der Nachfolgerinnen. Damals kannte ich weder Maria Wolkonskaja, noch wusste ich, dass es ein Irkutsk gibt auf dieser Welt.

Als ich dem Chronisten dann Jahre später zum Ersten Mal von Maria Wolkonskaja erzählte, schlug er sofort Irkutsk in Wikipedia nach und ich bekam eine E-Mail von ihm mit dem Link und dem Hinweis: Sieh Dir doch das Wappen von Irkutsk einmal an!
Damals bekam ich noch Gänsehaut.
Heute bin ich schon längst an diese „Zufälle gewöhnt.

Abendessen im „Atelier“

Salat mit Beef und Preiselbeeren.

 

Irkutsk 23 Uhr (Österreich 16 Uhr)

 

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Marie Nachfolgerin 08, 12.12.2018


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