Lost to regain – Der Klang der Sterne – Irkutsk und der Baikal
15. Dezember 2018
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Um 8 Uhr morgens ist es hier noch stockdunkel. Ich trinke einen „Early Morning Tea“ im Zimmer, dusche, wasche mir die Haare. Erst danach gehe ich zum Frühstück. Man grüßt sich normalerweise nicht, wenn man sich begegnet. Das bedeutet jedoch nicht, dass man sich nicht bemerken würde.
Als ich ins Zimmer zurück kehre funktioniert meine Türöffner-Karte nicht. Mit ihr habe ich laufend Probleme. Mein Nachbar von gegenüber – er hatte die Türe offen und sich eben mit freiem Oberkörper (ein erfreulicher Anblick!) ein Hemd gebügelt – kam mir sofort zu Hilfe.
Er rief in der Rezeption an und bedeutete mir, ich solle kurz warten. Um mir mein kleines Missgeschick angenehmer zu gestalten, schenkte er mir drei Zuckerln. Dann werkte er weiter in seinem Haushalt. Sein Zimmer offenbarte, dass er hier schon länger wohnt. Es glich einem Nomadenzelt.
Ich sah das Haus der Wolkonskis. Eines der noch relativ zahlreichen Holzhäuser hier in der Stadt, allesamt von beeindruckender handwerklicher Qualität. Viele stehen leer und verfallen. Doch in Anbetracht des heutigen Wohnkomforts darf man sich darüber nicht wundern. Die Heizkosten, selbst in isolierten Neubauten, müssen in dieser Klimaregion astronomisch sein. Smog liegt über der Stadt. Wenn sich frischer leiser Schnee auf meinem Fensterbrett anlegt, dauert es nur wenige Stunden bis er mit Partikeln von Ruß gesprenkelt ist. Schwarze Sommersprossen im Winterweiß.
Wenn ich in Zukunft also von Klimaschutz und Energiesparen träume, werde ich zugleich an Irkutsk im Winter denken. Und wie schon berichtet: Ich habe eine besonders warme Woche erwischt.
Das Museum im Haus der Wolkonskis hat noch ein klein wenig Ostblock-Charme. Die Wände der Räume, die Möblierung und die Gegenstände sind zwar original aus der Zeit der Dekabristen, die Böden jedoch sind Spannteppiche oder Laminat.
Man stellt hier die Lebensweise des Adels nach. Doch das Ambiente verschweigt, dass diese relativ gehobene Lebensweise für die Dekabristen erst in den letzten Jahren ihrer Verbannung möglich war. Wir sprechen von 30 Jahren Verbannung – und die ersten 15 davon verbrachten die Männer in den Arbeitslagern und am Beginn in furchtbaren und engen Kerkern. Nur der unermüdliche Einsatz der Frauen der Dekabristen, die ihnen hierher in die Verbannung gefolgt waren, verbesserte im Lauf der Jahre schrittweise zuerst die Kerkerbedingungen und später die Wohnmöglichkeiten. Nach einigen Jahren wohnten sie meist sogar bei ihren Familien.
Mehrere entlegene Wohn- und Arbeitsorte waren dem Haus Wolkonski also in Irkutsk vorausgegangen.
Die Berichte darüber, ab wann sie hierher übersiedeln durften, sind unterschiedlich.
Meine Quellen sagen: Maria Wolkonskaja durfte der Schulausbildung ihres Sohnes wegen nach Irkutsk übersiedeln, ihr Mann jedoch hätte noch mehrere Jahre vor den Toren der Stadt leben müssen. Im Museum des Hauses der Wolkonskis erzählen sie diese Geschichte anders.
„Geschichte“, so sagt mein Chronist „ist eine Gattung der Literatur“.
Sergej Wolkonski hat sich sehr für die Landwirtschaft interessiert. Er und einige der Dekabristen haben den Anbau von Gemüse in Sibirien revolutioniert. Etwas, das man auf jeder Speisekarte immer noch sehen kann. Die Vielfalt heimischer Gemüse ist erstaunlich.
Im Museum (es gibt übrigens inzwischen informative Besuchertexte in mehreren Sprachen und hier sogar in Deutsch) bekommt man fast den Eindruck, die Dekabristen lebten ganz normal. In Wahrheit war aber allen Verbannten, egal welcher Herkunft, der Zutritt zur offiziellen Gesellschaft in der Stadt versagt. Doch die Menschen in Irkutsk wussten die Bildung der hochadeligen Dekabristen sehr wohl zu schätzen. Im Haus der Wolkonskis etablierte sich rasch ein reges Gesellschaftsleben – hier war die große weite Welt quasi en miniatur zu erleben. Es gab alle für damalige gute Haushalte nötigen Räume, wenn auch in verkleinerter und teils leicht improvisierter Ausführung: Ball- bzw. Theatersaal, Herrenzimmer, Damen- bzw. Musiksalon und sogar einen Wintergarten.
Die kleine Orangerie, inmitten Sibiriens.
Bis heute werden die Dekabristen und besonders ihre Frauen hier in Irkutsk verehrt. Sie alle gaben der Region Irkutsk entscheidende Innovationsimpulse in verschiedenen Bereichen. Unterstützt durch die fleißige Zusendung von Büchern, aktuellen Musiknoten und Nachrichten bis hin zu Modemagazinen durch die Familienmitglieder der Dekabristen in der fernen Heimat.
Direkt nach dem Haus der Wolkonkis besuchte ich die einzige zeitgenössische Galerie von Irkutsk. Das Erdgeschoss beherbergt einen Kunsthandel, im Stockwerk darüber ist der zugehörige Ausstellungsraum. Es werden (leider) ausschließlich sibirische Künstler gezeigt. Die Tradition und die kulturelle Herkunft werden stark thematisiert. Die Malerei bleibt klassisch modern, der Post-Expressionismus herrscht vor. Doch die Skulpturen sind immerhin erstaunlich.
Im zweiten Museum der Dekabristen, dem Haus Trubetskoy ist die Geschichte der Verbannten genauer und inklusive der Härte der Gefangenschaft dargestellt. Besonders berührend: Als die Frauen der Dakabristen nach dem ersten Todesfall eine gewisse Hafterleichterung durchsetzen konnten, gründeten die Häftlinge sofort eine „Gefängnis-Akademie“. Trotz der harten Arbeit in den Minen, trafen sie sich allabendlich und lehrten sich gegenseitig ihr gesamtes mitgebrachtes Wissen.
Kultur.
Eine Art Unbesiegbarkeit.
Und dieser Wissensdurst scheint hier nach wie vor allgegenwärtig zu sein. Im Moment ist ja tatsächlich Zwischensaison, doch alle Museen, selbst die kleinsten und selbst jene, die außerhalb der Stadt liegen, haben geöffnet. Meist täglich von 10 bis 18 Uhr. Und immer sind Besucher dort.
Man geht am Wochenende ins Museum.
Heute, am Samstag den 15. Dezember, fuhr ich mit dem Bus an den Baikalsee. Schon die Bushaltestelle zu finden, war gar nicht so leicht. Doch ich ergatterte noch den vorletzten Sitzplatz. Die Busse sind meist klein, ca. 16 Sitzplätze + 1 oder 2 Reserveplätze neben dem Fahrer.
Man grüßt sich nicht beim Einsteigen; mit Ausnahme, Bekannte treffen sich. Überhaupt ist Grüßen und andauerndes Bitte- und Danke-sagen hier unbekannt. Doch das ist keine Unhöflichkeit. Die Menschen sind in Wahrheit sehr aufmerksam, man wird jederzeit bemerkt und sobald man zum Beispiel etwas sucht, kommt sofort jemand hinzu und bietet Hilfe an.
Ja, ich habe sogar den Eindruck, dass die permanente Wahrnehmung der Mitmenschen hier so selbstverständlich ist, dass es an Unhöflichkeit grenzt, wenn man jemanden explizit grüßt – so, als würde man urplötzlich über jemandes Anwesenheit erschrecken. Was man ja auch so interpretieren könnte: Ich habe Dich vorher nicht gesehen, ich war mit mir selbst beschäftigt.
Der gesellschaftliche Umgang in dieser Region fühlt sich für mich asiatisch an. Und das ist das erstaunlichste an dieser Reise. Die Lebensart sieht auf den ersten Blick europäisch aus. Das Essen, die Kleidung, die Kunst (mit Ausnahme jener, die ihre nomadischen Wurzeln zum Thema machen).
Aber doch, ich spüre, dass ich geografisch bereits in Asien bin. Die Menschen wirken sehr autonom, man tritt demonstrativ selbstbewusst auf. Niemand zum Beispiel zeigt, dass er oder sie friert. Man ist tapfer und geht seiner Wege. Man beansprucht möglichst wenig Hilfe. Und doch ist immer zugleich die oben beschriebene Aufmerksamkeit der anderen spürbar.
Ich fühle mich hier zugleich frei, gefordert und beschützt.
Ich saß im Bus neben einem Herrn, dessen Name ich leider nicht verstehen konnte. Er roch nach Wodka, sprach fünf Wörter Englisch und vielleicht weitere fünf Deutsch. Doch wir unterhielten uns gut. Er hat eine Datscha hier in der Gegend, wir fuhren fast an ihr vorbei, doch heute müsse er vorher noch nach Listvyanka zum Einkaufen. Er zeigte mir Fotografien seiner Datscha auf seinem Telefon. Auch von seinen Söhnen, seiner Frau und seiner Katze.
Listvyanka ist von Irkutsk aus der am schnellsten erreichbare Ort am Baikalsee. Ein gesichtsloser Badeort, alle Hotels und Restaurants im Moment geschlossen. Nur einige winzige Kioske boten Getränke und Imbisse an. Ich wanderte, gemeinsam mit einer Hand voll einheimischer Ausflügler, die Uferpromenade hinauf und hinab.
Der Baikal – wie ihn die Einheimischen schlicht und vertrauensvoll nennen – ist wirklich riesig und bewegt sich schon fast wie ein Meer.
Die Berge am anderen Ufer, verlockend.
Baikal from Maria Peters on Vimeo.
Doch am Wasser empfindet man die Kälte stärker. Nach eineinhalb Stunden war ich derart ausgefroren – und leider kein Restaurant offen um mich aufzuwärmen – dass ich beschloss, wieder in Richtung Irkutsk zurück zu fahren.
Ich ging zur Haltestelle, ein Bus stand bereit und ich hörte jemanden meinen Namen rufen. Mein Sitznachbar von zuerst hatte seine Einkäufe erledigt und winkte aus dem Bus. Er schwenkte seine Dose Wodka und meinte: „To museum, yes?“ Selbstverständlich gab es da keine Widerrede, ich hätte mich geschämt, ihr Museum zu ignorieren. (Obwohl ich heimlich bereits an eine ganz heiße Dusche gedacht hatte.) Ich fuhr also tapfer nur die eine Station bis zum Limnologischen Museum mit. Eine eher spartanische Darstellung der Flora und Fauna, der Geschichte und der technischen Erschließung des Baikalsees. Die Vitrinen und einige geologische Modelle waren meist nur auf russisch beschriftet, doch ohnehin interessieren mich solche Fakten wenig. Es gab auch mehrere klein geratene Aquarien mit Fischen des Baikalsees und ein sehr reduziertes Becken, bewohnt von zwei gelangweilten und sich ganz offensichtlich hassenden Baikal-Robben.
Schon nach etwa 20 Minuten ergriff ich die Flucht und erreichte präzise den nächsten Bus nach Irkutsk. Eine Stunde später stieg ich direkt am Central-Market aus und besichtigte noch die große Markthalle im samstäglichen Kaufrausch. Ich hätte gerne einen Imbiss genommen, ich stand etwas ratlos vor der Menütafel eines Restaurants und studierte die Fotos der Speisen (hier gab es natürlich nur russische Beschriftungen), doch an diesem hektischen Einkaufsnachmittag hatte man keine Geduld mit einer lästigen Touristin. Eine Kundin schob mich kurzerhand zur Seite – in Richtung Türe, ohne mich dabei anzusehen. Ich spürte, zu dieser Jahreszeit bin ich hier ein Eindringling. Ich kehrte also demütig in meine Touristenstraße und ins Hotel zurück.
Ohnehin hatte und habe ich noch viel aufzuschreiben und aufzuzeichnen. Mein Zimmer ist gemütlich. Ein unbedingtes must als Wintertouristin in diesem Land!
Ich habe einen Kühlschrank, einen Teekocher, einen angenehmen Arbeitstisch. Nur das Licht ist schlecht. Und wie schon so oft auf Reisen, ärgere ich mich darüber, dass ich wieder keine Arbeitslampe dabei habe. Es gibt Dinge, die vergisst man von einem Mal zum anderen.
Übrigens begann genau gestern, am Freitag den 14. Dezember, die allgemeine Weihnachtsdekoration in Irkutsk.
Wirklich erst gestern.
Welch ein schönes Land.
Mir bleiben nur noch eineinhalb Tage.
Facts:
Ausstellung Kunstraum pro arte, Hallein noch bis 22.12.2018
Finissage mit persönlichem Reisebericht: Sa 22.12. von 11 bis 13 Uhr
Schlussbericht von der Reise nächste Woche.
Blog04_Der Klang der Sterne_Baikal_Druckversion
6 Kommentare
Hallo Maria! Wirklich ein Super Bericht. Weiterhin alles Gute. Papa
Danke!
Ach, schon wieder in Wien. Aber hier ist es auch schön. Und das Land ist so beeindruckend, da muss man wirklich erst mal reflektieren.
Alles Liebste Maria
Liebe Maria, wie schön von Dir zu lesen. Ich kann mich einfühlen und bin gedanklich richtig dabei. Alles Liebe und bis bald liesbeth
Danke Dir! Das wäre auch etwas für Euch.
Bis sehr bald.
Liebe Grüße
Maria
Die Seele Sibiriens ruft nach Erforschung! Das nächste Mal gemeinsam dann. Im Sommer. Gunter.
Oh ja! Das ist quasi schon gebucht. Wir brauchen dringend einen Kurs in Russisch!
Kuss